KLEIDER(S)TÜCKE
Regina Lösel
ERÖFFNUNG
FREITAG, 13. DEZEMBER 2002
Die Mode sei, so schreibt Friedrich Theodor Vischer 1879: „wie ein unartiges Kind, das keine Ruhe gibt, das stupst und scharrt, gambelt, nottelt, bohrzt, trippelt, (...) sie muß zupfen, rücken, umschieben, strecken, kürzen, einstrupfen, nesteln, krabbeln, zausen, strudeln, blähen, quirlen, schwänzeln, wedeln, kräuseln, aufbauschen, (...) sie schreibt mit eisiger Ruhe die absolute Unruhe vor, sie ist die wilde Hummel und mürrische Tante, ausgelassener Backfischrudel und Institutsvorsteherin, Pedantin und Arlekina in einem Athem.“
Die Mode sei, so schreibt Friedrich Theodor Vischer 1879: „wie ein unartiges Kind, das keine Ruhe gibt, das stupst und scharrt, gambelt, nottelt, bohrzt, trippelt, (...) sie muß zupfen, rücken, umschieben, strecken, kürzen, einstrupfen, nesteln, krabbeln, zausen, strudeln, blähen, quirlen, schwänzeln, wedeln, kräuseln, aufbauschen, (...) sie schreibt mit eisiger Ruhe die absolute Unruhe vor, sie ist die wilde Hummel und mürrische Tante, ausgelassener Backfischrudel und Institutsvorsteherin, Pedantin und Arlekina in einem Athem.“ Nicht nur für den Autor Friedrich Theodor Vischer wurden die Kleidermode und der schnelle Wechsel der Mode seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Synonym für die gesellschaftliche Situation nach 1850 in Deutschland. Die zweite industrielle Revolution löste die mit Dampfmaschinen erzeugte Energie durch Elektrizität ab. Die Fortschritte im Verkehr erzwangen eine Vereinheitlichung von Raum und Zeit. Die industrielle Massenproduktion schuf in schneller Geschwindigkeit eine völlig neue Objektwelt mit unendlich vielen Dingen, die konsumiert werden mussten. Damit einher ging ein rasender Wechsel in der Gestaltung der Objekte. Die Welt drehte sich nach einem ganz neuen Gesetz: Der Gegenstand war bestimmt, der Mode zu folgen. Die Massenproduktion veränderte die Beziehung des Menschen zu den Objekten: Er war umgeben von einer Vielzahl von Dingen, die sich ständig zu verändern und ohne ihn zu agieren schienen. Sie seien „tückisch“, so das einhellige Urteil. Das Wort Tücke wurde so zum Signum einer ganzen Epoche. Seine Bedeutung einer schnellen Bewegung, eines bösen Streiches schien die Welt, so wie sie sich den Zeitgenossen zeigte, wieder einzuholen und festzustellen. Die ganze Welt war voller Tücke: Ein bewegliches, unzuverlässiges Getümmel von Lebewesen, nichts, was sich greifen ließe, nichts, was Ruhe und Dauer versprach, nie eine Unterbrechung, nirgendwo ein Ort des Anhaltens. Die in der Ausstellung versammelten Künstler, Modetheoretiker und Journalisten treffen mit ihrem Blick auf Bekleidung so ziemlich alle Ängste, die das Gleichgewicht des bürgerlichen Menschen im 19. Jahrhundert, zumal in seiner zweiten Hälfte, bedrohten. Denn in der Hierarchie der tückischen Dinge steht Bekleidung mit an vorderer Stelle. Sie rückt uns als zweite Haut auf den Körper. Stoff als flexibles Material kann reißen; wir können damit hängen bleiben. Der Stoff schlägt Falten, sein Fall kann manche Unregelmäßigkeit des Körpers enthüllen. Er formt, verformt unseren Körper und in unserer Bewegung sind wir seinem Ausdrucksspiel ausgeliefert. Die sich daraus ergebende Kleidertücke wurde von Modetheoretikern kritisiert, von Karikaturisten verspottet, von Journalisten beschrieben und von Mediziner gegeißelt.
Regina Lösel